Die Mythen O Senseis

(veröffentlicht im Vereinsmagazin „Aikido“ des Aikikai Deutschland e.V., von Markus Rohde, „Die Mythen O Senseis)

In der letzten Zeit hören wir auf den Lehrgängen mit Meister Asai im Zusammenhang mit den Erzählungen über O Sensei und dessen langen, für manche seiner Schüler ermüdenden Vorträge, öfter das Wort „Kojiki“. Dies sei der Name eines alten Buches, das die Quelle für viele seine symbolischen Andeutungen und mythologischen Vergleiche war.  Wie Meister Asai erklärt, ist die Kenntnis des Kojiki von großer Bedeutung für das Verständnis der Lehre O Senseis.

Möglicherweis ist das Studium des Kojiki auch für spätere Generationen von Aikidoka eine Möglichkeit etwas darüber zu erfahren, was O Sensei seinen Schülern vermitteln wollte, während diese bei auch im Winter weit geöffneten Fenstern auf der Matte froren. Wie kam es aber dazu, dass er sich bei seinen Erklärungen, was Aikido sei, auf dieses Buch bezog, und was haben sie mit dem Aikido-Training zu tun?

Das Kojiki [1] („Chronik alter Begebenheiten“) ist eine der beiden wichtigsten Sammlungen japanischer Mythen, die von der Entstehung der Welt und der Götter bis zum Beginn der japanischen Kaiser-Dynastie reichen, und wurde im Jahr 712 von einem Gelehrten namens Ō no Yasumaro niedergeschrieben.

Die zweite Chronik die sich mit demselben Themenkomplex befasst wurde im Jahre 720 verfasst, es handelt sich dabei um das Nihongi oder Nihonshoki, zu Deutsch „Chronik Japans“.

Eine noch ältere Chronik, die „Geschichte der Kaiser und des Landes“ wurde bereits im 7. Jh. Verfasst. Diese existiert jedoch nicht mehr, denn sie verbrannte im Zuge von Machtkämpfen

Das Interesse O Senseis an diesen alten Mythen, deren Entstehung wahrscheinlich mehrere Jahrhunderte vor die Zeit ihrer Niederschrift reicht, liegt in seiner ausgeprägten Spiritualität begründet. Für ihn war Aikido göttlicher Herkunft, eins mit den Prinzipien und Wirkungsweisen des Universums. Die Quelle dieser spirituellen bzw. religiösen Ausprägung liegt einerseits in seiner langjährigen Zugehörigkeit zur shintoistischen Ōmoto-kyō Religion, andererseits aber vielleicht auch schon in den Unterweisungen im Shingon-Buddhismus, die er bereits in früher Jugend erhalten hatte.

Onisaburo Deguchi der zu O Senseis Lebzeiten Führer der Ōmoto-kyō Sekte war, lernte O Sensei im Jahr 1919 kennen, als er auf dem Weg nach Hause zu seinem kranken Vater einen Umweg machte. Deguchi beeindruckte ihn so stark, dass er bald nach Ayabe umzug, wo sich das Zentrum der Ōmoto-kyō befand.

O Sensei hatte aber auch noch einen anderen wichtigen Lehrer, seinen hauptsächlichen und langjährigen Kampfkunstlehrer Sokaku Takeda, von dem er das Daitō-ryū Aikijujutsu erlernt hatte, und der ihm wie er sagte, die Augen für „wahres Budô“ geöfnet hatte. Schon über diesen wichtigen Einfluss gab es bereits Verbindungen zum Shintō, und vielleicht auch zu den Mythen.

Sokaku Takeda war in seiner Jugend in einen Shintō-Schrein geschickt worden, um dort eine Priesterausbildung zu beginnen, die aber nach kurzer Zeit abbrach. Seinen dortigen Lehrer Hoshina Chikanori, der eine Persönlichkeit von hohem Rang im Bezirk von Aizu war, besuchte er jedoch später oft. Es wird erzählt, dass dieser ihn die geheimnisvolle Kunst des Oshikiuchi lehrte, die er in das Daitō-ryū Aikijujutsu integrierte. Weiterhin unterzog er sich esoterischen Studien im Ryozen Schrein in Fukushima, der von der buddhistischen Tendai Sekte als Dojo benutzt wurde.

Über Sokaku Takeda wird üblicherweise berichtet, dass er sein Leben lang herumzog, in seiner Jugend sehr viele Kämpfe (teils mit tödlichen Ausgang) bestritten hat, und eher nicht, dass er sich religiösen Studien hingab. Umso mehr überrascht es vielleicht, dass von ihm folgende Worte stammen sollen: „Die wesentlichen Prinzipien von Daitō-ryū sind Liebe und Harmonie. Das Ziel der Verbreitung von Daito-ryu ist ‚Harmonie und Liebe‘. Diesen Geist zu bewahren ist es, was soziale Gerechtigkeit bewahrt und verwirklicht. Dies war Sokaku Senseis letzter Wunsch”. Dies klingt, als wäre es von O Sensei persönlich gesagt worden.

Zudem sind auch die Ursprünge des Daitō-ryū mit den japanischen Mythen verwoben. Laut offizieller Entstehungsgeschichte gilt als Vorläufer die mythische Kampfkunst Tegoi, die im Kojiki Erwähnung findet, und von der auch das Sumo abstammen soll. Es wurde darin ein Wettstreit zwischen einem Himmels- und einem Erdgott (Takemikazuchi no Kami and Takeminakata no Kami) ausgetragen, nach dem der Himmelsgott Takemikazuchi die Herrschaft über das „Mittelland des Schilfgefildes“, also Japan, übernahm. Zur Seite stand ihm dabei das „himmlische Vogelboot – Ame no torifune no kami“, mit dessen Hilfe er den Abstieg vom Himmel zur Erde bewältigte. „Torifune no gyo“ ist die im Aikido bekannte Übung, bei der die Vor- und Rückwärtsbewegung eines Bootsruders, unterstützt durch kräftiges intonieren bestimmter Silben imitiert wird. Die Übung dient im Shintoismus zur Vorbereitung auf „Misogi“ genannte Reinigungszeremonien.

Der Wettstreit zwischen den Göttern wurde interessanterweise über das gegenseitige Ergreifen der Hände (oder Handgelenke?) ausgetragen. Takemikazuchis Hand wurde dabei erst zu einem Eiszapfen, dann zu einem Schwert. Als er darauf Takeminakatas Hand ergriff, quetschte er diese so stark, als sei sie ein Bündel junges Schilf und warf sie weg. Damit war Takeminakata besiegt, der um Gnade bat und die Herrschaft über sein Land an Takemikazuchi abtrat. Man könnte die Geschichte so interpretieren, dass hier aus dem Aikido oder seinen Vorläufern bekannte Dinge geschehen, bzw. außerordentliche Fähigkeiten beschrieben werden: Greifen, um Kontrolle über den Gegner zu bekommen, eine körperliche Reaktion die den Angriff neutralisiert, und kraftvolles Werfen. Als Vergleich können vielleicht Berichte über O Sensei Fähigkeiten dienen, wie zum Beispiel, dass dessen Körper erst weich und dann plötzlich hart wie Stahl sein konnte, wenn seine Schüler beim Versuch ihn festzuhalten, von ihm wegflogen.

Eine sehr wichtige Unterweisung O Senseis mit unmittelbarem Bezug zum Kojiki betrifft die „Ame no ukihashi“, die schwebende Himmelsbrücke. Er betonte, wie wichtig es sei, zu werden wie Sarutahiko no Okami und auf der schwebenden Himmelsbrücke zu stehen, um Aikido zu verstehen und Fortschritte zu machen.

Was hat es mit dieser Brücke, die, wie es heißt Himmel und Erde verbindet, auf sich? Gleich am Anfang des Kojiki, als der Beginn der Welt beschrieben wird, spielt die Ame no ukikhashi eine wichtige Rolle. Über die Entstehung der Welt machen das Kojiki und das Nihonshoki unterschiedliche Angaben: Im Kojiki entsteht in Takamagahara, dem „Hohen Himmelsgefilde“ eine Göttertrias bestehend aus Ame no minakanushi no kami, Takamimusubi no kami und kamimusubi no kami, während im Nihongi die Trennung von Yin und Yang am Anfang steht. Als nächstes entstehen mehrere Einzelgötter und Götterpaare, von denen Izanagi no kami (der Mann der einlädt) und seine Schwester Izanami no kami (die Frau die einlädt) für die weiteren Ereignisse wichtig sind.

Als das Land jung war und wie Öl auf dem Wasser umhertrieb, befahlen die Himmelsgötter den beiden Gottheiten Izanami und Inzanagi, dieses Land zu ordnen, zu festigen und zu vollenden. Dazu gaben die Götter ihnen den himmlischen Juwelenspeer Tamaboko. Sie stellten sich damit auf die schwebende Himmelsbrücke, stießen den Speer ins Wasser und rührten es damit um.

Als sie rührten, gerann die salzige Flut, und als sie den Speer hochzogen tropfe das Geronnene vom Speer herab, und bildete eine Insel, die Onogoro hieß. Daraufhin stiegen sie auf die Insel hinunter und errichteten einen hohen Himmelspfeiler und eine Halle. Daraufhin vollzogen sie einen Hochzeitsritus, den sie wiederholen mussten, da ihr erstes Kind eine Missgeburt war, das ‚Blutegelkind‘ Hiruko. Es hieß so, weil es keine Knochen hatte. Sie setzen es in ein Schilfboot und ließen es davonschwimmen.  Die Kinder die nach der Wiederholung des Hochzeitsritus geboren wurden, waren seltsamerweise weitere Inseln und verschiedene Götter.

Wie bereits erwähnt, hatte die Ame no ukihashi für O Sensei eine besondere Bedeutung. Die Gottheit Sarutahiko-no-okami, die er als eine Art Beschützer der schwebenden Himmelsbrücke und auch als persönliche Gottheit ansah, ist einer der 42 Gottheiten (Kami), die im Aiki-jinja (Aiki-Schrein), der von Morhei Ueshiba zu Ehren der Aikido-Kami in Iwama gebaut wurde, „eingeschreint“ sind.

Die von Izanami und Izanagi in Gang gesetzte Schöpfung betrifft auch die Techniken des Aikido. Die gleiche Kreativität soll wirken, wenn durch Aiki Techniken geboren werden. Diese müssen auf den gleichen Prinzipien beruhen, die bei der Entstehung der Welt gewirkt haben, das ist die Bedeutung von „Takemusu“. Eine besondere Bedeutung haben auch die Spiralbewegungen des Aikido, denn die Götter bewegten sich bei ihrer Zeremonie in gegenläufigen Spiralen um den Himmelspfeiler.

Ein anderer für O Sensei wichtiger Kami ist Ame-no-murakumo Kuki Samuhara Ryu-ō. Eine Deutung dieses langen Namens ist kompliziert, da er aus verschiedenen Teilen und Bedeutungen besteht. Der erste Teil, Ame-no-murakumo, bezieht sich auf ein mythisches Schwert, Ame-no-Murakumo-no-Tsurugi (das himmlische Schwert des Wolkensammelns). Dieses hatte Susanoo no mikoto, der Sohn Izanagis und Bruder der Sonnengöttin Amaterasu-ō-mi-kami, im Körper eines achtköpfigen Monsters gefunden. Zuerst musste er dieses natürlich überlisten und mit seinem eigenen Schwert erschlagen. Das Schwert wurde zu einer der drei heiligen Throninsignien des japanischen Kaiserhauses, wurde aber später umbenannt und bekam den Namen Kusanagi-no-Tsurugi, „Das grasmähende Schwert“.

Für O Sensei nun wiederum war Ame-no-murakumo Kuki Samuhara „das heilige Schwert, dessen Schneiden Himmel und Erde vereinen“, oder manchmal auch „Das heilige Schwert von Himmel-Erde-Mensch-Aiki“. Die japanischen Schwerter die wir heute kennen (Katana) sind ja gekrümmt und haben eine Schneide an der Unterseite, dieses Schwert jedoch war gerade und hatte zwei Schneiden.

Himmel-Erde-Mensch ist ein aus dem Daoismus stammender Begriff, der nicht nur philosophische Bedeutung hat, sondern auch für das Üben der Kampfkünste bedeutsam ist. Es ist damit eine Übungsmethode oder ein Konzept verknüpft, mit der das entwickelt werden soll, was man in den Kampfkünsten als „Innere Kraft“ bezeichnet. Die Symbolik von Himmel und Erde als gegensätzliche Kräfte ist bekannt, sie ist uns schon bei der schwebenden Himmelsbrücke begegnet. Auch sie verbindet Himmel und Erde, und in der Mitte, also auf der Brücke, steht der Mensch, und harmonisiert diese Yin-Yang oder auf Japanisch In-Yo genannten Kräfte, für die nun auch die beiden Gottheiten Izanagi und Izanami stehen. Die Verbindung bzw. Harmonisierung von gegensätzlichen Kräften im inneren des Menschen geschieht durch Ki, womit unsere Lebenskraft, aber auch die mentale Kraft der Vorstellung gemeint ist, denn der Geist lenkt das Ki. Ein auf diesem Konzept basierendes Training (Ai-ki-in-yo-ho) führt dann u.a. zu der Fähigkeit, angreifende Kräfte so auszugleichen, dass sie scheinbar „verschwinden“, oder an den Angreifer zurückgegeben werden können. O Sensei konnte solche Dinge eindrucksvoll demonstrieren, wie ja von vielen Menschen die Zeugen seiner Demonstrationen waren oder dies am eigenen Leib spüren konnten, berichtet wird. Ein Mensch, dessen Körper auf diese Weise arbeitet, ist unangreifbar,und unbewegbar, was auch für den letzten Teil des Namens Ame-no-murakumo Kuki Samuhara Ryu-ō steht.

Der letzte Teil des Namens (Ryu-ō) bedeutet nämlich „Drachenkönig“. Dieser stammt eigentlich aus dem „Mikkyo“ genannten esoterischen Buddhismus und heißt dort Fudō Myōō (der in Indien Acala, das bedeutet unbewegt, genannt wird). Im Mikkyo gibt es zwei hauptsächliche Strömungen, den Shingon und Tendai Buddhismus. O Sensei hatte Bezüge zum Shingon-Budhhismus, während seine Lehrer Sokaku Takeda wie weiter oben erwähnt sich im Umfeld des Tendai-Buddhismus bewegt hatte. Fudō Myōō wird mit einem Schwert dargestellt, und es wundert jetzt wahrscheinlich nicht, dass dieses Schwert mit dem heiligen Schwert Kusanagi gleichgesetzt wird.

Es entsteht also so langsam die Erkenntnis, dass die von O Sensei verwendeten Symboliken irgendwie Zusammenhängen. Vielleicht versuchte er ja damit sein Konzept zu erläutern, in dem er immer wieder auf die gleichen Dinge hinwies, als wären seine Worte eine Art Code, mit dessen Hilfe man Zugang zum Verständnis seiner Lehren erhalten könnte. Diesen Code zu entschlüsseln ist eine anspruchsvolle Aufgabe, und setzt natürlich umfangreiche Kenntnisse der japanischen Sprache und Kultur voraus.

Hierzu ist schon einiges an Arbeit geleistet und geschrieben worden, die Quellen die ich benutzt habe sind unten angegeben. Vieles ist gut begründet, anderes beruht vielleicht auf Einschätzungen und Spekulationen. Es bleibt da sicher noch sehr viel zu tun um die Verknüpfungen zwischen den Lehren O Senseis und seinen Trainingsmethoden zu erforschen, und vor allem natürlich auch zu üben.

Quellen und Links:

Morihei Ueshiba, The secret teachings of Aikido (Kodansha International, Tokyo 2007)

Nelly Naumann, Mythen des alten Japan (C.H. Beck, München 1996)

Ellis Amdur, Hidden in Plain Sight (USA, 2009)

https://www.univie.ac.at/rel_jap/kami/Hauptseite

http://www.daito-ryu.org

www.aikidosangenkai.org

P. Goldsbury, Transmission, Inheritance, EmulationVol. 1 -28:

http://www.aikiweb.com/columns/

Bild:

Izanami und Izanagi erhalten den Befehl

https://www.univie.ac.at/rel_jap/k/images/thumb/f/f6/Izanami_und_Izanagi_erhalten_den_Befehl_der_Himmelsgottheit.jpg/300px-Izanami_und_Izanagi_erhalten_den_Befehl_der_Himmelsgottheit.jpg


[1] Eine Übersetzung ins Deutsche mit umfangreichen Erläuterungen gibt u.a. von Nelly Naumann (1996 bei C.H. Beck München,), bis 1986 Professorin für Japanologie an der Albert-Ludwigs Universität in Freiburg.